RW 39

RW 39

Bei weltanschaulichen Fragen »Roß und Reiter« nennen!

Briefwechsel von Monika-Gärnter-Engel mit Autoren des Abschnitts zur Sprachwissenschaft im REVOLUTIONÄRER WEG Nr. 39 im Prozess der Erstellung des Buches

Von RW-Redaktion

Monika Gärtner-Engel,

27. Januar 2024

An die Genossen für die Ausarbeitung des Abschnitts zum REVOLUTIONÄRER WEG 39 »Die Funktion der Sprache im weltanschaulichen Kampf«

Liebe Genossen!

Allmählich nähert sich der REVOLUTIONÄRER WEG 39 der Manuskriptreife. In diesem Zusammenhang konnten Stefan und ich uns auch mit dem von euch vorgelegten Abschnitt »Die Funktion der Sprache im weltanschaulichen Kampf« beschäftigen. Euer Abschnitt enthält viele wertvolle Elemente, die durchaus eine Grundlage für die Ausarbeitung auf dem Niveau eines REVOLUTIONÄREN WEG ermöglichen. Dazu gehört eine ganze Bandbreite von Fragen vom Einstieg, wie Sprache entstanden ist, was die Klassiker dazu sagen bis hin zu neuen Erscheinungen wie der Einsatz von »Framing«.

Ihr habt dazu auch eine wichtige Vorarbeit gemacht, nämlich die akribische Zusammenstellung, was die bisherige ideologisch-politische Linie der MLPD zum Thema »Sprache« und im weiteren Sinn zum weltanschaulichen Kampf aussagt.

Eure Ausarbeitung enthält allerdings den Fehler, dass ihr euch um die Behandlung der prinzipiellen Auseinandersetzung um Sprache und Sprachwissenschaft in der kommunistischen Bewegung herumdrückt. Die Briefe Stalins dazu wurden in der Prawda im Jahr 1950 abgedruckt. Diese Auseinandersetzung wurde in der Sowjetunion und im Übrigen auch in der internationalen Diskussion sehr hoch gehängt.

Es ist nicht richtig, eine solche prinzipielle Diskussion in der kommunistischen Bewegung einfach auszuklammern. Das kommt einer Verdrängung der grundsätzlichen Seite gleich. Ihr habt weder die Kernaussagen der Briefe und Stalins Schrift dazu auf dem Niveau unserer Konspekte bearbeitet, in den wenigen Anmerkungen dazu recht tendenziell angepasst und auch nicht den gesellschaftlichen Kontext der Auseinandersetzung und die »Kontrahenten« analysiert. Es ist bereits ein Problem der Briefe Stalins, dass in der ganzen Auseinandersetzung weder Roß und Reiter benannt werden, noch Originalzitate von ihnen angeführt und sich dazu positioniert wird.

Gerade Letzteres konnte ich bisher auch nicht befriedigend nachholen. (...)

Ich habe also die Briefe Stalins, der in der Prawda veröffentlicht wurden, studiert, einen Konspekt dazu angefertigt und einen Teil dazu ausgearbeitet. Ich kam zu dem Ergebnis, dass das eine komplizierte Frage ist, die bezogen auf Verstöße gegen die dialektische Methode von allgemeingültiger Bedeutung ist. Berechtigt kritisiert Stalin eine vulgärmaterialistische Sprachtheorie, nach der Sprache sozusagen reflexartig von der ökonomischen Basis einer Gesellschaft bestimmt wird. Ebenfalls offenbar vorhandene einseitige These, Sprache nur als »Klassensprache« zu bezeichnen.

Doch seine Antworten darauf sind zugleich einseitig und seine Argumentation eine einfache Negation. Einseitig ist zum Beispiel, wenn er zwar zugesteht, dass Sprache und Begriffe auch im Klasseninteresse genutzt werden, dies aber nur als »Jargon« bezeichnet werden müsse und nicht zu Sprache gehöre. Ein derartiger »Jargon« werde nur im engen Kreis der Herrschenden benutzt und vegetiere dort vor sich hin. Wenn aber die herrschenden Ideen die Ideen der Herrschenden sind, dann ist auch die Sprache der Herrschenden die herrschende Sprache. Von Anfang an und erst recht im »Zeitalter« des Systems der kleinbürgerlichen Denkweise gibt es ja ein regelrechtes »Wörterbuch« der klassenversöhnenden, manipulativen Begriffe und Sprache. Umgekehrt gibt es als Ausdruck des antagonistischen Klassenwiderspruchs auch die kurze, konkrete und verständliche Sprache der Arbeiterklasse, des wissenschaftlichen Sozialismus, die wiederum von den Herrschenden gemieden wird.

Das dialektische Gesetz von Einheit und Kampf der Gegensätze anzuwenden bedeutet, dass Sprache sowohl einigendes und durchaus klassenübergreifendes Kommunikationsmittel einer Nation ist, als auch klassenmäßig benutzt und geprägt ist - und Ausdruck des Klassenkampfes auf weltanschaulichen Gebiet.

Und hier liegt die Brisanz der Auseinandersetzung: die Leugnung des Klassencharakters von Sprache führt zu einer Geringschätzung, der weltanschaulichen Auseinandersetzung. Die Begriffe und »Narrative« der alten und neuen Lebenslügen sind doch heute ganz wesentlicher Gegenstand des Kampfs um die Denkweise unter den Massen!

Die Brisanz ist nicht minder ausgeprägt in der damaligen Zeit. Die Briefe wurden 1950 geschrieben. Das war eine Zeit, in der objektiv ein heftiger Klassenkampf um den sozialistischen Aufbau tobte. Die Gefahr der kleinbürgerlichen Bürokratie und Vorstufen der späteren neuen Bourgeoisie bildeten sich heraus, wurden aber gering geschätzt und die Gefahr einer Restauration des Kapitalismus bestritten.

Der Revisionismus spielt in Bezug auf die Sprache eine große Rolle. Vordergründig sind es die Begriffe des Marxismus-Leninismus. Aber entweder werden sie sinnentfremdet oder umgebogen und entstellt. So wird aus dem Staat der Diktatur des Proletariats ein Staat des ganzen Volkes. Das wurde als Fortschritt im sozialistischen Aufbau verkauft, war aber in Wirklichkeit eine revisionistische Entstellung des Marxismus-Leninismus.

Stalin wendet sich auch vehement dagegen, dass Sprache zum Überbau gehört. Er geht sogar noch weiter und sagt, Sprache gehört weder zur Überbau, noch zur Basis. Was gibt es denn in der Gesellschaft außerhalb dieser beiden fundamentalen Elemente und ihrer Wechselbeziehung? Nach den Ausführungen von Marx und Engels gehört Sprache zum Überbau. Sie verknüpfen Sprache direkt mit der Bewusstseinsbildung, wenn sie Sprache als »unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens«1 bezeichnen.

Bei Lenin stieß ich darauf, dass er vor allem eine sehr bedeutende Sprachenpolitik betrieben hat. Dabei ging es darum, dass der Vielvölkerstaat Sowjetunion die Vielfältigkeit und Gleichberechtigung der Sprachen verwirklichen sollte. Er lehnte zunächst Russisch als Staatssprache ab und bestand auf muttersprachlichem Unterricht in den einzelnen Unionsrepubliken. Auch hier wird deutlich, dass die Behandlung der Sprache im REVOLUTIONÄREN WEG weit in Fragen der Gesellschaftsveränderung und auch des sozialistischen Aufbaus hineinreicht.

Die Geringschätzung dieser grundlegenden Fragen in einem Abschnitt hat auch mit der Methode der Vorarbeit zu tun. Wie gesagt habt ihr reichhaltiges Material aus der seitherigen Linie der MLPD zusammengestellt, auch Zitate aus Stalins Texten.

(…) In der Führung durch die Zitate Stalins klingen durchaus berechtigte Zweifel oder Anmerkungen an. Aber ihr geht dem nicht auf den Grund und zieht keine Schlussfolgerungen für den Abschnitt im RW, sondern klammert das Thema dort aus.

Liebe Genossen!

Ihr seid dann ja auch in die Beurteilung des Manuskripts und die Antragstellung einbezogen und könnt Euch sinnvollerweise bis dahin auch mit dieser Materie befassen. Ansonsten vielen Dank für eure Arbeit, ich bin gespannt was ihr dazu meint und herzliche Grüße, auch von Stefan!

Eure Monika

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Die Genossen antworten:

Ein Mitarbeiter der Redaktion an Monika Gärtner-Engel zu seiner Ausarbeitung zum REVOLUTIONÄREN WEG Nr.39 »Die Krise der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften, der Religion und der Kultur«



Liebe Monika,

wir stimmen deinen Kritiken vom Ende Januar vollständig zu: Unser Entwurf vom Oktober 2023 würde noch keine »Ausarbei­tung auf dem Niveau eines REVOLUTIONÄREN WEG ermöglichen«, er muss grundsätz­lich überarbeitet werden. Nun sind wir gespannt auf das Manuskript.

Nach längeren Auseinandersetzungen konnten wir uns einigen, dass unser Fehler hauptsäch­lich darin bestand, die Untersuchung aktueller Entwicklungen von Sprache im weltanschauli­chen Kampf zu beginnen, ohne vorher wirklich die marxistisch-leninistischen Grundlagen ge­klärt zu haben.

Wir haben die Klassiker nur unter dem Blickwinkel studiert, uns ein Fundament für die Aus­einandersetzung mit dem Thema zu verschaffen. Ein Genosse hat ausgewertet, dass er zu viel Respekt vor Stalin hatte, um ihn zu kritisieren, und außerdem die Vorstellung, die Fehler Stalins hätten sich vor allem in der Praxis ereignet. Das widerspricht dem Erkenntnisfort­schritt der Partei und ist eine dogmatische Haltung, die die Kontrolle von unten aushebelt, wenn man sie zu Ende denkt. Wir haben gerade am Live-Talk diskutiert, wie in einer Zeit schneller Veränderungen, großer Herausforderungen und neuer Möglichkeiten die Kontrolle von unten funktionieren muss.

Der Gedanke, dass Sprache weder Basis noch Überbau wäre, gab uns ein ungutes Gefühl. Wir haben Stalins Qualifizierung aber zunächst unwidersprochen zitiert und nur anschlie­ßend ge­schrieben, dass es aber einen bürgerlichen und proletarischen Sprachgebrauch gibt. Einem unguten Gefühl nicht nachzugehen, den Widerspruch nicht zu überprüfen und dann klar zu formulieren, ist eine unzulässige Methode. So haben die Revisionisten die Überein­stimmung ihrer falschen Linie mit dem Marxismus-Leninismus zu begründen versucht. Wir teilen deine Kritik, dass Stalins Qualifizierung undialektisch und problematisch ist. Sie reiht sich ein in eine Reihe von Auseinandersetzungen in der Sowjetunion im Vorfeld der revisio­nisti­schen Entartung, die zumindest dazu beigetragen haben, die Partei und die Massen welt­anschaulich zu ent­waffnen. Wir hätten das Zitat von Stalin kritisieren und dann einen Teil über Sprache und Revisionismus ausarbeiten müssen.

Du kritisierst zu Recht, dass sich unser Entwurf »um die Behandlung der prinzipiellen Auseinandersetzung um Sprache und Sprachwissenschaft in der kommunistischen Bewegung herumdrückt«. Ohne solche Analyse ist schöpferische Synthese nicht möglich. Mit dem historischen Materialismus kann Sprache nur als Geschichte der Sprachentwicklung und der Sprachwissenschaft begriffen werden. Wir haben nicht erfasst, dass Stalin von Erkenntnissen abwich, die schon Marx und Engels in ihren Werken ausdrückten, und wir haben uns nicht die Mühe gemacht, auch bei Lenin und Mao nach weiteren Erkenntnissen über Sprache und Sprachgebrauch nachzuforschen.

Du kritisierst bei Stalin »Verstöße gegen die dialektische Methode« und forderst: »Das dialektische Gesetz von Einheit und Kampf der Gegensätze« muss auch auf die Sprache angewandt werden. Dann begnügst du dich in deinem Brief aber mit einem ein­fachen »sowohl ‒ als auch«. Das reicht für einen Brief, nicht für einen RW. Während Stalin sich auf Wortschatz und Grammatik der Sprache konzentrierte, befassten sich Lenin und Mao vor allem mit Begriffen (vgl. REVOLUTIONÄRER WEG 6 »Die dialektische Methode in der Arbeiterbewegung«, 53‒56). Auch wenn große Teile der Sprache für verschiedene Klassen gleich sind, sind gerade die Bedeutungen vieler Begriffe abhängig voneinander, und zwar widersprüchlich. Der REVOLUTIONÄRER WEG 39 könnte einleitend im Abschnitt II.4 herausarbeiten, wie Kapi­talisten- und Arbeiterklasse dieselben Begriffe benutzen, aber mit gegensätzlichen Be­deutun­gen, und wie sich deren jeweilige Vorherrschaft in der Gesellschaft ändert, etwa bei Lebens­lügen oder revolutionären Begriffen.

Einen weiteren Fehler greifst du an ‒ auch sehr zu Recht ‒, wenn du darauf hinweist, dass wir keinen Konspekt erarbeitet und deshalb »die prinzipielle, kritisch-selbstkritische und schöp­ferische Beschäftigung« mit den theoretischen Grundlagen nicht geleistet haben. Theoreti­sches Arbeiten mit der dialektischen Methode muss über die Auswahl von Zitaten und Kom­mentare zu den Zitaten hinausgehen.

Du hast uns geholfen zu verstehen, dass und wie wir unsere Fähigkeiten zur theoretischen Arbeit verbessern müssen. Danke.

Viele Grüße



1 Karl Marx, Friedrich Engels, »Die deutsche Ideologie«, Marx/Engels, Werke, Bd. 3, S. 432