Monika Gärtner-Engel
Briefwechsel zur Metaphysik der modernen Psychologie
Monika Gärtner-Engel an einen Mitarbeiter zur Ausarbeitung für den Revolutionärer Weg Nr. 38: "Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft" zur Metaphysik der modernen Psychologie
Monika Gärtner-Engel
Lieber Genosse,
als Vorarbeit für seine eigene Bearbeitung hat Stefan Engel mich beauftragt, deinen Abschnitt zum Revolutionärer Weg 38, »Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft«: Über die Metaphysik der modernen Psychologie durchzuarbeiten. Das war eine sehr gute Herausforderung! ...
So habe ich mich also zu allererst damit beschäftigt, was Marx, Engels, Lenin und unsere ideologisch-politische Linie grundsätzlich zum Thema Psyche/Psychologie zu sagen haben - und wurde bei Marx, Engels und Lenin überraschend reichlich fündig! In der ideologisch-politischen Linie der MLPD ist die Lehre von der Denkweise zweifellos zentraler Bezugspunkt für diese Ausarbeitung. ...
Nach dieser kritisch-selbstkritischen Erarbeitung des Maßstabs habe ich mich an die gründliche Beschäftigung mit deiner Ausarbeitung gemacht.
Sie bringt eine große Fülle an Kenntnissen über verschiedene Strömungen der bürgerlichen Psychologie, aber auch der sozialistischen (Sozial-)Psychologie und Psychiatrie in der Sowjetunion und China zum Ausdruck. Doch offenbar hat gerade dieser Kenntnisreichtum und eine ebenfalls langjährige Beschäftigung mit der Psychologie dich dazu verleitet, selbst nicht mehr von der grundsätzlichen Seite aus heranzugehen. So enthält die Ausarbeitung doch eine ganze Reihe grundsätzlicher Fehler sowie konkrete Mängel, die eine weitgehende Überarbeitung notwendig machen. Das will ich im Folgenden begründen.
I. Die grundsätzliche Seite, von der du ausgehst, ist nicht der Marxismus-Leninismus und die ideologisch-politische Linie der MLPD (insbesondere die Lehre von der Denkweise), sondern die Pawlow‘sche Theorie.
In der Ausarbeitung des Revolutionärer Weg müssen wir grundsätzlich vom Marxismus-Leninismus und von unserer ideologisch-politischen Linie ausgehen. ...
Dein theoretischer Ausgangspunkt sind demgegenüber die Studien von Pawlow. Er war tatsächlich und berechtigt ein von Lenin hochgeschätzter und geförderter Wissenschaftler. Dennoch muss bei aller Würdigung der Wissenschaft in der sozialistischen Sowjetunion immer auch beachtet werden, dass die Dialektik tendenziell gering geschätzt wurde. Das gilt auch für Pawlow! Insgesamt seine Forschungen über die bedingten und unbedingten Reflexe jedoch als allgemeinen Bezugspunkt für die weltanschauliche Behandlung »des Psychischen« im Revolutionären Weg zu machen, bedeutet bereits eine Weichenstellung zur Verdrängung der grundsätzlichen Seite.
Die Darstellung von Pawlows Forschungsergebnissen führt dich zu der allgemeinen Qualifizierung: »Der Mensch ist ein Reflexwesen«. (S. 6 deines Manuskripts) Dieser theoretische Ausgangspunkt widerspricht dem Marxismus-Leninismus, weil er die Spontaneität (Reflexe) verabsolutiert und die Bewusstheit gering schätzt.
Was sind Reflexe? »Reflex ist eine unwillkürliche, rasche und stets gleichartige Reaktion eines Organismus auf einen bestimmten Reiz.« (Wikipedia) Oder: »Reflexe sind unwillkürlich und automatisch ablaufende Reaktion des Körpers, die über Nervenzellen koordiniert werden und dem Schutz des Körpers dienen.« (Biologieschule). Wie auch immer man es im Einzelnen definiert: Reflexe sind spontan ablaufende Prozesse, für die das Nervensystem eine zentrale Rolle spielt. Die für die weltanschauliche Auseinandersetzung zentrale Frage, wie Bewusstsein entsteht, kann aber nicht über die Spontaneität, über Reflexe erklärt werden. Es ist ein komplizierter Verarbeitungsprozess, bei dem das Gehirn die zentrale Rolle spielt.
Du stellst weiterhin die These auf: »Der dialektische Materialismus kennzeichnet das zentrale Nervensystem (ZNS) des Menschen als die höchst entwickelte Materie.« (S. 1) Diese Qualifizierung kann sich meines Erachtens nicht auf den Marxismus-Leninismus oder unsere Linie berufen. So arbeitet der Revolutionärer Weg Nr. 24 »Die dialektische Einheit von Theorie und Praxis« heraus:
»Die höchst entwickelte Form der Materie ist das menschliche Gehirn, soweit wie dies auf der Erde bekannt ist. Obwohl es auch nur ein Produkt der Natur ist, ist es nicht nur zur einfachen Widerspiegelung der Umgebung fähig, sondern vermag, immer neue und tiefergehende Zusammenhänge zu erforschen.« (Seite 12)
In unserer ideologisch-politischen Linie wird also gerade nicht die nur spontane Widerspiegelung äußerer Reflexe im Inneren des Menschen mittels des zentralen Nervensystems zum Produkt der höchsten Form der Materie erklärt, sondern gerade deren Verarbeitung mit dem Gehirn: dies mittels des dialektischen Denkens, der Bildung von Bewusstheit über die vermittelten Reize der Außenwelt. Dabei spielt die Erforschung der objektiven Dialektik in der Funktionsweise von zentralem Nervensystem und Gehirn natürlich eine bedeutende Rolle zur materialistischen Erforschung und Verallgemeinerung von Gesetzmäßigkeiten psychischer Prozesse und der dialektischen Negation in therapeutischen Schlussfolgerungen. Dies ist aber ein Prozess, von der objektiven Dialektik zur subjektiven Dialektik (Bewusstmachung) vorzudringen und kein spontaner, reflexhafter Vorgang.
Zur Untermauerung deiner These des spontanen Psychischen schreibst du demgegenüber:
»Das Psychische existiert als Eigenschaft der organischen Materie, und zwar ›überall, wo Protoplasma, lebendiges Eiweiß, existiert und reagiert, d. h. bestimmte, wenn auch noch so einfache Bewegungen als Folge bestimmter Reize von außen vollzieht.‹« (S. 1)
Demnach tritt das Psychische in der Reaktion jedes lebendigen Eiweiß, das auf Reize von außen reagiert, zutage.
Das als Definition des Psychischen von Lenin anzusehen, ist kaum denkbar, weil es ein vulgärmaterialistischer Standpunkt ist, nach dem jede Eiweißreaktion auf Reize »psychisch« sei.
Lenin dagegen spricht von der grundsätzlichen »materialistischen Unterscheidung zwischen Materie (Körpern, Dingen) und Psychischem (Empfindungen, Erinnerungen, Phantasien)« (Werke, Bd. 14, Seite 49).
Er ordnet das Psychische ausdrücklich nicht dem Nervensystem, sondern dem menschlichen Gehirn zu: »Das Psychische, das Bewußtsein usw., ist das höchste Produkt der Materie (d. h. des Physischen), es ist eine Funktion jenes besonders komplizierten Stückes Materie, das als Gehirn des Menschen bezeichnet wird.« (Lenin, Werke, Bd. 14, Seite 226)
Und schließlich definiert er den Begriff der »Empfindungen«, den er synonym zum »Psychischem« verwendet, gerade als Brücke zur Verarbeitung der Reize der Außenwelt im Bewusstsein. Er polemisiert:
»Für jeden Naturforscher, der durch die Professorenphilosophie nicht verwirrt worden ist, sowie für jeden Materialisten ist die Empfindung tatsächlich die unmittelbare Verbindung des Bewußtseins mit der Außenwelt und die Verwandlung der Energie des äußeren Reizes in eine Bewußtseinstatsache.« (Lenin, Werke, Bd. 14, 42/43, Hervorhebung Verf.)
II. Die Überhöhung der Spontaneität in deinen angeführten theoretischen Grundlagen ist verbunden mit einer allgemeinen Geringschätzung der weltanschaulichen Auseinandersetzung in deiner Ausarbeitung.
Du stellst dir einleuchtend das Thema: »Die Entwicklung der Psychologie als weltanschauliche Stütze des Kapitalismus«. (S. 8) In diesem Zusammenhang stellst du verschiedene »Schulen« der Psychologie dar (Psychoanalyse, Sozialpsychologie, Behaviourismus) ausgehend von der nachvollziehbaren Ausgangsthese:
»Ihr Idealismus und vor allem die Metaphysik sollen den Antagonismus in der kapitalistischen Gesellschaft verschleiern, seine Wirkung im biopsychischen Apparat verfälschen und das kapitalistische Gesellschaftssystem stützen.« (S. 8)
Die dann folgenden Ausführungen sind aber eher ein sachkundiges Referat, eine komprimierte Information über diese Theorien. Sie enthalten allerdings ein doppeltes Problem: zum einen folgt dann kaum eine tatsächliche weltanschauliche, sondern überwiegend eine politische Auseinandersetzung. Du bringst einige Zitate, die du kommentierst, statt restlos überzeugend zu argumentieren und zu polemisieren. Die Überzeugungskraft fehlt vor allem auch deshalb, weil die Zitate meist gar nicht das aussagen, was du in deinem Kommentar unterstellst.
So sagst du, dass Freud »in einem Brief an den Physiker Albert Einstein das Wesen des Menschen für den imperialistischen II. Weltkrieg verantwortlich« gemacht habe. Das darauf folgende Zitat spricht zwar von aggressiven Neigungen der Menschen, hat aber überhaupt keinen Bezug zum Zweiten Weltkrieg und behauptet schon gar nicht, dass diese aggressiven Neigungen dessen Ursache gewesen seien. Genauso wird ohne Beleg mit einem tatsächlichen Zitat und ohne Argumentation behauptet, dass er den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft mit dem Wesen des Menschen für unvereinbar erklärt habe. Zudem fehlt die dialektische Negation, weil du bei der Kritik an diesen Positionen stehen bleibst, ohne die dazugehörige dialektisch-materialistische Position zu entwickeln.
Der Bezug auf Originalzitate, sie exakt zu zitieren, restlos überzeugend zu zerpflücken, zu widerlegen, zu polemisieren und daran positiv die dialektisch-materialistische Weltanschauung zu entwickeln, ist aber eine Grundanforderung an die weltanschauliche Auseinandersetzung.
Das zweite Problem besteht darin, dass du nur offen reaktionäre Theorien behandelst, die du auch entsprechend als faschistisch, faschistoid usw. charakterisierst. Du stellst die These auf, dass sie auch weiterhin – in modifizierter, »verfeinerter« (Seite 12) Form – die offizielle psychologische Lehrmeinung sind. Sicherlich sind sie auch weiterhin Bestandteil und dies vielleicht sogar verstärkt mit der Rechtsentwicklung in der Gesellschaft.
III. Die These von der durchweg offen reaktionären bürgerlichen Psychologie ist stark vereinfachend. Insbesondere ignorierst du in der ganzen Ausarbeitung die Rolle der Psychologie im System der kleinbürgerlichen Denkweise.
Berechtigt kritisierst Du die Metaphysik der bürgerlichen Psychologie und wiederholt den Positivismus der bürgerlichen Psychologie. Aber es fehlt der gerade heute vorherrschende Zusammenhang von positivistischer Methode und Propagierung der kleinbürgerlichen Denkweise und wiederum ihre dialektische Negation. Der RW 35 weist auf diese Zusammenhänge hin:
»Der Positivismus führt zur Vereinzelung, zu Kleingeistigkeit, zum Pragmatismus und zur kleinbürgerlich-reformistischen Denkweise, die immer nur unmittelbar greif- und erlebbare Reformziele auf die Tagesordnung setzt. Es gilt aber, die globalen Zusammenhänge dialektisch-materialistisch zu analysieren und die Schlussfolgerungen daraus zur Leitlinie menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns zu machen.« (Seite 41)
Wirklichen Masseneinfluss von der Denkweise der Massen her hat doch heute eben nicht die deterministische, biologistische, offen reaktionäre Psychologie, sondern eine »Alltagspsychologie«, die im Grunde alle Seiten des Systems der kleinbürgerlichen Denkweise repräsentiert. Es ist eine kleinbürgerlich-reformistische Denkweise, wenn dem wachsenden Massenumfang an psychischen Problemen vor allem psychotherapeutisch begegnet werden soll; es ist eine kleinbürgerlich-feministische Antwort auf die Krise der bürgerlichen Familienordnung, wenn Frauen »endlich mal an sich selbst denken« und »nein-sagen-lernen« sollen, statt sich ewig für andere und die Familie »aufzuopfern«; es ist eine kleinbürgerlich-antikommunistische Denkweise, wenn viele Therapeuten unseren Genossen gegenüber politische Arbeit als »krank machend« oder als »Ersatzhandlung für die eigentlich anstehende Bewältigung psychischer Probleme« diffamieren; der verbreitete Jugenddünkel in vielen psychologischen Ratschlägen (zum Beispiel in Elternzeitschriften) fördert die kleinbürgerlich-antiautoritäre Denkweise und macht die Kinder zu kleinen Tyrannen und Schmarotzern usw. usw.
Zur Rolle der Psychologie im System der kleinbürgerlichen Denkweise gehören gerade auch die zahlreichen sich fortschrittlich gebenden Varianten der Psychologie wie die kritische Psychologie (entstanden mit der Studentenbewegung), der Konstruktivismus, die psychoanalytisch-systemischen Therapieansätze oder die neurobiologischen Untersuchungen, die zum Beispiel die Psychologie und Pädagogik von Gerald Hüther prägen.
Alle diese Ansätze beinhalten Zugeständnisse an die materialistische Kritik an der offen reaktionären bürgerlichen Psychologie: die kritische Psychologie der Studentenbewegung behauptete, Marxismus und Psychoanalyse zu verbinden; der Konstruktivismus kritisiert berechtigt den Determinismus und betont die subjektiv unterschiedliche Verarbeitung derselben objektiven Realität; die systemischen Ansätze beanspruchen, nunmehr nicht nur das Individuum, sondern eben seine vielfältigen Beziehungen, die gesellschaftliche Umgebung usw. in das therapeutische Handeln einzubeziehen; die fortschrittliche Sozialpsychologie beansprucht, sich statt wie Freud auf bourgeoise Individuen forschend und helfend auf die breiten Massen zu beziehen; nicht zuletzt die neurobiologischen Forschungen, die den Dualismus von Geist und Körper widerlegen und die materiellen Abläufe psychischer Prozesse nachweisen.
Ihr gemeinsamer weltanschaulicher Kern ist – sehr ähnlich wie bei den Machisten - die implizite These/Theorie und Praxis von der Vereinbarkeit/Versöhnung/Vermischung von Materialismus und Idealismus. Diese Vermischung gibt es aber nicht, sondern sie führt geradewegs in den Idealismus.
Hier bist du aber bezogen auf die moderne Psychologie anderer Meinung und verfichst damit objektiv ebenfalls die Vermischung von Materialismus und Idealismus. Du schreibst:
»Die moderne psychobiologische Forschung ist eine Bestätigung der großartigen Forschung Pawlows und hat seine Erkenntnisse weiter entwickelt und vertieft. Den Idealismus hinter sich lassend geht sie davon aus, dass die materielle Welt objektiv – also unabhängig von der menschlichen Erkenntnis – existiert und jedes einzelne unserer fünf Sinnesorgane Eigenschaften der Außenwelt aufnimmt.« (Seite 7, Hervorhebung Verf.)
Und weiter:
»Mit der modernen Psychobiologie konnte der Idealismus überwunden werden, der mit Freuds Theorie des Unbewussten und der Triebe tief in die Psychologie eingedrungen war. Das Unbewusste war nicht länger etwas mystisches…« (Seite 8, Hervorhebung Verf.)
Demzufolge gibt es in der ganzen Ausarbeitung keine weltanschauliche Auseinandersetzung mit den »fortschrittlichen« Strömungen in der Psychologie. Offensichtlich siehst du dafür keine Notwendigkeit, weil sie den Idealismus hinter sich ließ? Das wäre ein fataler Trugschluss, der die ganzen neueren Entwicklungen der Psychologie als Reaktion auf das gewachsene Bewusstsein der Massen ausblendet. Damit steht eben nicht, wie von Stefan Engel ausgerichtet und gefordert im Mittelpunkt »die weltanschauliche Grundlage der Psychologie, die eigentlich verhindert, dass die Psychologie eine Wissenschaft ist«. Wenn die idealistische Grundlage der bürgerlichen Psychologie ausgespart würde, erhielten mit dem Revolutionärer Weg 38, »Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft« gerade diejenigen idealistischen Theorien und Varianten der Psychologie Aufwertung und Spielraum, die heute eine besondere Massenattraktivität haben und eigentlich im Zentrum der kritischen weltanschaulichen Auseinandersetzung als Kampf um die Denkweise stehen müssten.
Besteht hier nicht auch ein Zusammenhang zu der aufgekommenen Meinung, dass Polemik gegenüber fortschrittlichen Wissenschaftlern oder Bündnispartnern unangebracht und abschreckend sei? Das folgt immer noch dem bürgerlichen Begriff von Polemik als beleidigend, persönlich, herabsetzend, verletzend. Demgegenüber ist die wissenschaftliche Polemik generell – wenn auch natürlich differenziert anzuwenden – sogar unabdingbar, wenn antagonistische Widersprüche auftauchen oder nicht antagonistische, deren Entwicklungsrichtung hin zur Verwandlung in antagonistische verläuft. Polemik in der Behandlung des weltanschaulichen Idealismus gerade auch bei fortschrittlichen Wissenschaftlern kann nur hilfreich sein, um den in der bürgerlichen Wissenschaft geradezu chronisch verwischten Unterschied zwischen Materialismus und Idealismus plastisch, scharf, greifbar und so überzeugend darzulegen, dass eine Entscheidung für den dialektischen Materialismus gefördert wird.
IV. Der Idealismus der modernen Psychologie
Es ist nicht ganz klar, was und wen du genau mit der »modernen Psychobiologie« meinst. Ich würde Gerald Hüther dazu rechnen. Er hat ja wirklich bedeutende Forschungen über das Gehirn gemacht und daraus sinnvolle pädagogische Leitlinien abgeleitet, die uns im Kampf gegen die kleinbürgerlich-antiautoritäre Denkweise in der Erziehung sehr nützlich sind. So wies er nach, dass Verwöhnen von Kindern das Lernen behindert, adäquate Herausforderungen und Anstrengungen dagegen Lernen und Persönlichkeitsentwicklung fördern. Aber hat er angesichts seiner auf das Gehirn bezogenen hervorragenden materialistischen Einzelerkenntnisse den Idealismus hinter sich gelassen? Keineswegs!
Wenn man seine Website besucht, springen seine hervorgehobenen Lieblingszitate ins Auge. Er fordert eine neue »Begeisterung«, »Ziele, die über das individuelle Dasein hinaus weisen« usw. Jedes einzelne Zitat beinhaltet einen gewissen fortschrittlichen Gedanken, ein bestimmtes Zugeständnis an die Kritik der offen reaktionären Psychologie, einen gesellschaftlichen Bezug - und ist doch zutiefst idealistisch:
- »…dass die Ursache für die Mehrzahl dieser Störungen nicht im Gehirn der betreffenden Patienten, sondern in ihren ungünstigen, krankmachenden Beziehungserfahrungen zu finden sind.«
- »Das zutiefst Menschliche in uns zu entdecken wird unsere wichtigste Aufgabe im 21. Jahrhundert.«
- »Denn die tiefgreifenden Veränderungen vollziehen sich immer dann, wenn wir in unserem Inneren wieder etwas von dem zu spüren beginnen, was wir bei unseren Versuchen, so perfekt wie möglich zu funktionieren, in uns selbst so sehr unterdrücken mussten: unsere Lebendigkeit, die Verbundenheit, das Mitgefühl, auch unsere Sinnlichkeit und die Freude am eigenen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten.«
- »Von allen Abenteuern des Lebens ist das Kinderbekommen wohl das kostbarste und überwältigendste.«
Idealistisch ist diese ganze Theorie und Denkweise deshalb, weil letztendlich immer der individuelle Mensch mit seinen Empfindungen, der Mensch an sich, die individuelle Selbstverwirklichung, dass psychische Befinden gänzlich unhistorischer Ausgangs- und Bezugspunkt ist. Wo bleibt die Realität der Klassengesellschaft? Wo die Rolle der Denkweise? Genau das charakterisiert Lenin als Idealismus:
»Das Wesen des Idealismus besteht darin, dass das Psychische zum Ausgangspunkt genommen wird; aus ihm wird die Natur abgeleitet, und dann erst aus der Natur das gewöhnliche menschliche Bewusstsein. Dieses ursprüngliche ›Psychische‹ erweist sich daher stets als tote Abstraktion, die einer verwässerten Theologie als Deckmantel dient. Jeder weiß zum Beispiel, was eine menschliche Idee ist, aber eine Idee ohne den Menschen und vor dem Menschen, eine Idee in der Abstraktion, die absolute Idee ist eine theologische Erfindung des Idealisten Hegel.« (Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, S. 225)
Die geradezu theologische, idealistische Abstraktion, das von Lenin an der Psychologie immer wieder kritisierte ausgeprägt unhistorische Herangehen sticht bei Hüther bei aller pädagogischer Fortschrittlichkeit sogar besonders hervor: Was ist denn das »zutiefst Menschliche«? Welche »Begeisterung« und wofür fordert er? Welche »Ziele über das individuelle Dasein hinaus« sind heute notwendig? Krankmachend sind bei ihm allenfalls Beziehungen, nicht aber gesellschaftliche/kapitalistische Verhältnisse. Glück findet man nirgendwo im gesellschaftsverändernden Engagement (womöglich für den Sozialismus), sondern am besten im Kinderkriegen … Hier wird doch unübersehbar die Verbindung der weltanschaulich idealistischen Grundlage mit der Beeinflussung durch die kleinbürgerliche Denkweise und kleinbürgerliche Lebensvorstellungen deutlich.
Ich möchte Hüther jetzt keineswegs in besonderer Weise abwerten oder gar als Gegner bezeichnen. Im Gegenteil! Der Revolutionärer Weg 38, »Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft« muss aber gerade darauf abzielen, die bahnbrechenden wissenschaftlichen Erkenntnisse wie seiner Hirnforschung durch die Verarbeitung mit dem Marxismus-Leninismus, insbesondere der materialistischen Dialektik regelrecht vom irreführenden Idealismus zu »befreien«, damit für den Befreiungskampf nutzbar zu machen und auch Wissenschaftler wie ihn dafür zu gewinnen. Das geht aber nur über die Kritik an der bürgerlichen Weltanschauung dieser Wissenschaftler und nicht, indem man ihnen fälschlich die Befreiung vom Idealismus bescheinigt. Dann landet die Bündnisarbeit im Opportunismus und der Revolutionärer Weg 38, »Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft« hat seinen Zweck verfehlt.
V. Psychologie als Wissenschaft beginnt mit der Kritik am Idealismus und der metaphysischen Methode und muss heute auf der Grundlage der Lehre von der Denkweise stehen
In dieser »Befreiung« von Idealismus und Metaphysik, von der kleinbürgerlichen Denkweise liegt auch der Schlüssel zu einer wissenschaftlichen Psychologie. Du bringst dazu auch das bedeutende Lenin-Zitat aus Materialismus und Empiriokritizismus (s.u.), interpretierst es allerdings einseitig als »Anregung« zur Erforschung der psychischen Funktionen (Seite 3). Einseitig ist das deshalb, weil er diese dialektisch-materialistische Erforschung des Psychischen an die Kritik von Metaphysik und Idealismus der bürgerlichen Psychologie bindet. Die Kritik an der Metaphysik zitierst du nur sehr verkürzt! So lautet der Anfang des Zitats:
»Das ist ja das anschaulichste Kennzeichen der Metaphysik, mit der jede Wissenschaft begonnen hat: solange man es nicht verstand, an die Untersuchung der Tatsachen zu gehen, stellte man stets a priori allgemeine Theorien auf, die stets unfruchtbar blieben (…) Der Metaphysiker in der Psychologie räsonierte darüber, was die Seele ist. Schon das Verfahren an sich war hier absurd. Es geht nicht an, über die Seele zu räsonieren, ohne die psychischen Prozesse im einzelnen erklärt zu haben: der Fortschritt muß hier gerade darin bestehen, daß man die allgemeinen Theorien und philosophischen Konstruktionen über die Seele aufgibt und es versteht, die Untersuchung der diese oder jene psychischen Prozesse kennzeichnenden Tatsachen auf den Boden der Wissenschaft zu stellen.« (Lenin, Was sind die »Volksfreunde«, Bd. 1, Seite 135 - Unterstreichung Verf.)
Und weiter:
»Er, dieser wissenschaftliche Psychologe, hat die philosophischen Seelentheorien beiseite geworfen, sich unmittelbar an die Untersuchung des materiellen Substrats der psychischen Erscheinungen – der Nervenprozesse – gemacht und, wollen wir annehmen, einen bestimmten psychischen Prozeß oder mehrere solcher Prozesse zu analysieren und zu erklären vermocht.« (Lenin, Was sind die »Volksfreunde«, Bd. 1, Seite 135)
Was bedeutet das für heute? Unser »wissenschaftlicher Psychologe« muss heute die dialektische Methode auf dem Niveau der Lehre von der Denkweise und des systemischen Denkens beherrschen, materialistischer Dialektiker sein. Und dazu gehört, selbst einen klaren Klassenstandpunkt einzunehmen und diesen auch zu propagieren. Man kann ja einen Wissenschaftler nicht bereits dann als Materialisten bezeichnen, wenn er einige reale objektive Prozesse treffend untersucht hat. Der dialektische Materialismus nimmt den Klassenstandpunkt der Arbeiterklasse ein, beteiligt sich aktiv am Klassenkampf und fördert das auch. Kleinbürger und kleinbürgerliche Therapien scheuen den Widerspruch, die offene Konfrontation vom Klassenstandpunkt aus und im Klassenkampf, und betrachten dies als Überforderung. Das Gefühl der Schwäche, der Ohnmacht und das mangelnde Selbstbewusstsein wird aber nur materialistisch bekämpft und dialektisch negiert, wenn tatsächliche Stärke und kollektives Selbstbewusstsein entwickelt wird. Das Gefühl der Vereinzelung wird man niemals in einer allein individuellen Therapie und durch noch so schöne Gespräche real überwinden.
Die krankhafte Einwirkung der Destruktivkräfte des Imperialismus ist verbunden mit der Entstehung manipulierter Gefühle und Gedanken der Ausweglosigkeit - die aber als manipuliert erkannt und verarbeitet werden müssen! Alle krankhafte Erscheinungen des Psychischen stehen heute in Wechselwirkung mit der kleinbürgerlichen Denkweise, insbesondere der kleinbürgerlich-negativistischen und kleinbürgerlich skeptizistischen Denkweise. Die wissenschaftliche Psychologie muss in Forschung und Therapie die Dialektik der objektiven und subjektiven Seite verwirklichen: nicht nur die objektive Seite der Destruktivkräfte entlarven und anklagen, sondern einen klaren Klassenstandpunkt einnehmen und das dafür notwendige Bewusstsein, Selbstsicherheit, kollektives Handeln und optimistische Lebensperspektiven ins Zentrum stellen. Die therapeutisch intensive Beeinflussung des Stoffwechsels (durch Sport, Medikamente …) muss sich verbinden mit geeigneten Methoden der Aufarbeitung/Bewältigung traumatisierender Lebenserfahrungen und der dialektischen Negation der Ohnmachtsgefühle in der Stärkung der Bewusstheit, der Organisiertheit und gesellschaftsveränderndem Engagement.
Viel Erfolg, herzliche Grüße – auch von Stefan - und pass auch Du weiterhin auf deine Gesundheit auf!
Monika